Körperliche Inaktivität wurde als viertgrößter Risikofaktor für die globale Sterblichkeit identifiziert. Technologische und soziale Veränderungen im häuslichen, ökologischen und beruflichen Umfeld haben zu einem zunehmend inaktiven Lebensstil in verschiedenen Kulturen und Ländern geführt. So haben beispielsweise Computer einst körperlich anstrengende Arbeit ersetzt. Als Konsequenz werden heutzutage viele Alltagsaktivitäten ohne anstrengende körperliche Aktivität ausgeführt. Mit anderen Worten, eine Vielzahl an Menschen verbringt einen Großteil ihrer Zeit in einer sitzenden Körperhaltung mit geringem Energieaufwand, d.h. im sedentären Verhalten. Ausgehend von Forschungsergebnissen über die physiologischen Auswirkungen ist sedentäres Verhalten nicht nur „körperliche Inaktivität“, sondern vielmehr ein eigenständiges Verhalten mit eigenen physiologischen Mechanismen. Angesichts der dringenden Notwendigkeit körperliche Inaktivität zu reduzieren, könnte es ein vielversprechender Ansatz sein das Konstrukt des sedentären Verhaltens gründlich zu untersuchen. Ein Jahrzehnt später, trotz der gestiegenen Anzahl der Studien über sedentäres Verhalten, befindet sich das Forschungsgebiet noch immer in einem frühen Stadium. Es dauerte eine Weile, bis sich die Forschungsgemeinschaft auf eine weithin akzeptierte Definition des Konstruktes geeinigt hat. Sedentäres Verhalten wird durch zwei Komponenten gekennzeichnet, zum einen durch eine liegende/zurücklehnende/sitzende Körperhaltung und zum anderen durch eine Bewegungsintensität von ≤ 1,5 metabolischen Äquivalenten (METs). Entsprechend anspruchsvoll sind die Anforderungen an die Methodik sedentäres Verhalten gemäß den Gütekriterien (Validität, Objektivität, Reliabilität) zu erfassen. In einigen früheren Studien wurde die selbst berichtete Sitzzeit oder die Zeit des Fernsehens als Indikator für das sedentäre Verhalten verwendet. Aufgrund von Erinnerungsverzerrungen und dem Effekt der sozialen Erwünschtheit können Selbstauskünfte bzw. subjektive Methoden zu einer ungenauen Messung des sedentären Verhaltens führen. Seit einiger Zeit haben sich objektive Geräte wie Akzelerometer dank ihrer Tragbarkeit und der Möglichkeit, große Mengen an Informationen zu sammeln, zur bevorzugten Messmethodik entwickelt. Nichtsdestotrotz bleibt die Erfassung beider Komponenten (d.h. Körperhaltung und Energieverbrauch) des sedentären Verhaltens auch für Aktivitätssensoren eine anspruchsvolle Aufgabe. Da nur sehr wenige Aktivitätssensoren sedentäres Verhalten genau erfassen können, besteht ein dringender Bedarf an der Entwicklung weiterer gerätebasierter Methoden. Obwohl Aktivitätssensoren derzeit bevorzugt werden um quantitative Aspekte (z.B. Dauer oder Intensität) des sedentären Verhaltens zu erfassen, sind Sensoren limitiert hinsichtlich der Erfassung qualitativer Aspekte (z.B. Art des Verhaltens oder Umgebungskontext). Die Erfassung des vollständigen Musters des sedentären Verhaltens, d.h. aller qualitativer und quantitativer Aspekte, ist relevant um vertiefte Einblicke in Determinanten und Konsequenzen zu erhalten, was wiederrum die Grundlage für die Entwicklung individuell zugeschnittener Interventionen zur Verringerung des sedentären Verhaltens bilden kann. In der Vergangenheit haben sich die Studien vor allem auf den Zusammenhang zwischen einer sedentären Lebensweise und physiologischen Markern wie der kardiometabolischen Gesundheit fokussiert. Vorrangig haben diese Studien meist experimentelle Studiendesigns unter Laborbedingungen oder Querschnittdesigns angewandt und dabei Unterschiede zwischen Probanden entdeckt, z.B. haben Personen, die mehr Zeit in einer sedentären Verhaltensweise verbringen, einen schlechteren Gesundheitszustand. Insgesamt betrachtet wurden jedoch zwei Themen nicht ausführlich beleuchtet. Zum einen liefern experimentelle und querschnittliche Studiendesigns einen bedeutenden wissenschaftlichen Beitrag und haben zu einem höheren Bewusstsein für das sedentäre Verhalten sowohl in den öffentlichen Medien („Sitzen ist das neue Rauchen“) als auch in der Forschung geführt. Dennoch besitzen diese Erkenntnisse nur eine begrenzte ökologische Validität und die dynamischen Innersubjekt-Meschanismen wurden bislang kaum betrachtet. Zum anderen haben sich – wie oben erwähnt – die meisten Studien auf den Zusammenhang zwischen sedentärem Verhalten und physiologischen Markern konzentriert, während die psychische Komponente der Gesundheit nur selten berücksichtigt wurde. Dies ist bedeutsam, da die Prävalenz und Inzidenz psychischer Störungen in den letzten Jahren anstieg. Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen sedentärem Verhalten und psychischen Konstrukten würde die Erkenntnisse über die möglichen gesundheitlichen Folgen von „zu viel Sitzen“ erweitern. Die Stimmung ist ein zentraler Indikator für das psychische Wohlbefinden bei gesunden Menschen und wird bei vielen psychischen Störungen als verändert wahrgenommen (z.B. verschlechterte Stimmung bei schweren Depressionen, verbesserte Stimmung bei manischen Episoden und hohe Stimmungsschwankungen bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen). Darüber hinaus ist bekannt, dass die Stimmung ein diffuser Zustand ist, der über die Zeit variiert. Demnach könnte ein dynamischer Innersubjekt-Mechanismus zwischen sedentärem Verhalten und Stimmung eine plausible Annahme sein, z.B. könnte ununterbrochenes Sitzen zu einer Verschlechterung der Stimmung führen. Ambulantes Assessment (AA) ist derzeit die vielversprechendste Methodik zur Erfassung von Innersubjekt-Mechanismen zwischen (in)aktivem Verhalten und Stimmung. Die Forschungsmethode umfasst die kontinuierliche und gerätegestützte Messung des (in)aktiven Verhaltens mittels Akzelerometrie und die wiederholte selbstberichtete Auskunft der Stimmung mittels elektronischer Tagebücher (z.B. als Applikation auf dem Smartphone). Darüber hinaus hat AA viele Vorteile, nämlich die Erfassung im Alltag, in Echtzeit sowie die dichte und hochfrequentierte Datenerfassung. Dementsprechend können laborbedingte Verzerrungen oder Erinnerungsverzerrungen minimiert werden, die mit traditionellen Ansätzen wie einer retrospektiven schriftlichen Befragung verbunden sind. Fortgeschrittene statistische Ansätze, wie die Mehrebenen-Modellierung, ermöglichen die Analyse verschachtelter Datenstrukturen (z.B. Messzeitpunkte verschachtelt in Personen). In einem statistischen Modell können so gleichzeitig Inner- und Zwischensubjekt-Effekte geschätzt werden. Die primären Ziele dieser Arbeit waren i) methodische Aspekte der Erfassung des sedentären Verhaltens zu betrachten und ii) die Erkenntnisse über psychobehaviorale Determinanten und Konsequenzen des sedentären Verhaltens im täglichen Leben zu erweitern. In der ersten Arbeit wurde die Validität verschiedener Akzelerometer (ActivPAL, ActiGraph und Move) verglichen. Es nahmen 20 gesunde Erwachsene unter Laborbedingungen an einem strukturierten Studienprotokoll mit einer Reihe von voll- und halbstandardisierten Bedingungen teil. Die direkte Beobachtung mittels Videoaufzeichnung wurde als Kriterium für die Körperposition (sitzend/liegend vs. nicht sitzend/liegend) verwendet. Durch die Kombination der direkten Beobachtung mit metabolischen Äquivalenztabellen wurden die Protokollaktivitäten zudem als sedentär oder nicht sedentär kategorisiert. Die Ergebnisse offenbarten, dass der Move 4 [Oberschenkel] ausgezeichnete Bewertungen, der Move 4 [Hüfte] mäßige bis ausgezeichnete Bewertungen und der ActiGraph schwache bis gute Bewertungen für die Klassifizierung von Körperposition erhielt. Für die Komponente des sedentären Verhaltens zeigte der Move 4 [Oberschenkel] ausgezeichnete Bewertungen, der ActivPAL nahezu ausgezeichnete Bewertungen, der Move 4 [Hüfte] gute bis ausgezeichnete Bewertungen und der ActiGraph schwache bis ausgezeichnete Bewertungen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die am Oberschenkel getragenen Geräte, nämlich der Akzelerometer Move 4 und der ActivPAL, eine ausgezeichnete Validität bei der Messung der Körperposition und des sedentären Verhaltens erreichen und für zukünftige Studien empfohlen werden. In der zweiten Arbeit wurde das getriggerte sedentäre „Ecological Momentary Assessment (EMA)“ als ein methodischer Fortschritt im Bereich der Forschung über sedentäres Verhalten vorgestellt. Zusätzlich wurde die Genauigkeit der getriggerten sedentären EMA in drei verschiedenen Studien an gesunden Erwachsenen untersucht. Darüber hinaus untersuchten wir den Mehrwert der getriggerten sedentären EMA im Vergleich zu einer Simulation eines zufälligen Abfragedesigns. Getriggertes sedentäres EMA umfasst die kontinuierliche Erfassung des sedentären Verhaltens mittels Akzelerometrie und wiederholte kontextbezogene Abfragen über elektronische Tagebücher (d.h. eine Applikation auf einem Smartphone). Genauer beschrieben überträgt der Akzelerometer Daten zur Körperposition (sitzend, liegend oder aufrecht) via Bluetooth Low Energy (BLE) in Echtzeit auf ein Smartphone und triggert zu beantwortende Fragebögen. Jedes Mal, wenn ein Proband eine bestimmte Zeit (z.B. 20 Minuten) in sitzender Körperposition verbringt, löst das elektronische Tagebuch kontextbezogene Abfragen aus. Um die Genauigkeit dieser Methode zu testen wurde die prozentuale Genauigkeit aller sedentär getriggerter Abfragen im Verhältnis zur Gesamtzahl der sedentären Phasen, die durch Akzelerometer erfasst wurden und potentiell eine Abfrage auslösen könnten, berechnet. Im Durchschnitt lag die Genauigkeit über alle Probanden hinweg bei über 80 %. Im Vergleich zu Simulationen eines zufälligen Abfragedesigns (alle 120 Minuten) war die Genauigkeit des getriggerten sedentären EMA um bis zu 47,9 % höher. Die Ergebnisse zeigten darüber hinaus, dass sedenäre Phasen (≥ 20 Minuten) vorwiegend außerhalb des Arbeitskontextes auftraten und wenn die Probanden nicht allein waren. Zusammengefasst zeigte die Studie, dass getriggertes sedentäres EMA einen methodischen Fortschritt darstellt, der zur Erfassung sozialer und umweltbezogener Kontextinformationen oder zur Auflösung dynamischer Assoziationen verwendet werden kann. In der dritten Arbeit wurde untersucht, inwiefern sedentäres Verhalten Stimmungsdimensionen beeinflusst. Hierbei wurde eine AA–Studie im Alltag von 92 Universitätsangestellten über fünf Tage durchgeführt. Sedentäres Verhalten wurde kontinuierlich mittels Akzelerometrie gemessen und die Stimmung mehrmals täglich in elektonischen Tagebüchern via Smartphone-Applikation erfasst. Zur Varianzmaximierung verwendeten wir einen getriggerten sedentären Algorithmus, der in der zweiten Arbeit vorgestellt wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass sedentäres Verhalten (15-Minuten-Intervalle vor jeder Stimmungsbewertung) und sedentäre Phasen (30-Minuten-Intervalle mit ununterbrochenem sedentären Verhalten) die Stimmungsdimensionen Gute-Schlechte Stimmung und Wache-Müde negativ beeinflussten. In anderen Worten: Mehr sedentäres Verhalten im täglichen Leben führte zu einem niedrigeren Niveau des Wohlbefindens und des Energielevels. Dementsprechend verweisen erste Erkenntnisse darauf, dass sedentäres Verhalten ein allgemeiner Risikofaktor sein könnte, der sowohl die somatische als auch die psychische Gesundheit beeinflusst. In der vierten Arbeit untersuchten wir den reziproken Einfluss der dritten Arbeit, inwiefern die aktuelle Stimmungsbewertung das nachfolgende sedentäre Verhalten beeinflusst. Darüber hinaus untersuchten wir, ob der Zusammenhang zwischen Stimmung und sedentärem Verhalten von der methodischen Perspektive abhängen könnte. Hierfür verwendeten wir multiple Regressionsanalysen zur Auswertung von Zwischensubjekt-Effekten aus Fragebogendaten und den Ansatz der Mehrebenen-Modellierung zur Analyse von Innersubjekt-Effekten aus der AA-Studie. Die Ergebnisse zeigten, dass höhere Bewertungen der Stimmungsdimensionen Gute-Schlechte Stimmung und Wach-Müde zu einer geringeren nachfolgendenen Dauer des sedentären Verhaltens prognostizierten, während höhere Bewertungen der Stimmungsdimension Ruhe-Unruhe eine längere Dauer an nachfolgendem sedentären Verhalten prognostizierten. Die Effekte der Stimmungsdimensionen Wach-Müde und Ruhe-Unruhe auf das sedentäre Verhalten wurden durch den Umgebungskontext moderiert; so fallen die Effekte im Setting „Zuhause“ stärker aus als im Setting „Arbeit“. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Stimmung das sedentäre Verhalten im Alltag regulieren könnte. Zeitsensitive Analysen, wie z.B. von Abfragezeitpunkt zu Abfragezeitpunkt, ergaben einen Zusammenhang zwischen Stimmung und sedentärem Verhalten (Innersubjekt-Analyse), während Analysen zwischen verschiedenen Personen keine Zusammenhänge ergaben (Zwischensubjekt-Analysen). Basierend auf den Erkenntnissen der zweiten und dritten Arbeit deuten die Ergebnisse auf eine reziproke Beziehung zwischen sedentärem Verhalten und Stimmung hin. In der fünften Arbeit wurde der Einfluss verschiedener Facetten einer Unterbrechung des sedentären Verhaltens auf die Stimmungsdimensionen im Alltag untersucht. In der aus Arbeit zwei beschriebenen AA-Studie wurden verschiedene Unterbrechungsmuster wie folgt definiert: Variation in der Häufigkeit (Anzahl der Unterbrechungen), Dauer (Länge der Unterbrechungen), Intensität (metabolisches Äquivalent der Unterbrechung) und Umgebungskontext (Zuhause/Arbeitsplatz). Der Einfluss des jeweiligen Unterbrechungsmusters auf die Stimmung wurde in einem Innersubjekt-Design analysiert. Die Ergebnisse zeigten, dass die Intenstät der Unterbrechung positiv mit den nachfolgenden Stimmungsdimensionen Gute-Schlechte Stimmung, Wach-Müde und Ruhe-Unruhe assoziiert war. Die Häufigkeit der Unterbrechung war positiv mit den nachfolgenden Stimmungsdimensionen Gute-Schlechte Stimmung und Wach-Müde assoziiert, während die Dauer der Unterbrechung nicht mit der Stimmung assoziiert war. Explorative Analysen zeigten zudem, dass Unterbrechungen des sedentären Verhaltens im Setting „Zuhause“ einen größeren Effekt zeigten als im Setting „Arbeit“. Insgesamt betrachtet deuten die Ergebnisse darauf hin, dass ein häufiges und intensives Unterbrechen des sedentären Verhaltens, z.B. durch Gehen statt Stehen, am vorteilhaftesten für die Verbesserung der Stimmung sein könnte. Diese Erkenntnisse aus dem Alltag können als Beitrag für die Formulierung präziserer Gesundheitsempfehlungen dienen, die darauf abzielen, „das sedentäre Verhalten im Alltag zu minimieren“. Nach dem derzeitigen Wissensstand tragen unsere angeführten Ergebnisse in unterschiedlicher Hinsicht zu einem Erkentnissgewinn im Bereich des sedentären Verhaltens bei. Zum einen wurde in Übereinstimmung mit früheren Studien gezeigt, dass Akzelerometer die bevozugte Methode ist um quantitative Aspekte des sedentären Verhaltens zu messen. Darüber hinaus können sich elektronische Tagebücher (z.B. eine Applikation auf dem Smartphone) als wertvoll für die Erfassung der qualitativen Aspekte des sedentären Verhaltens erweisen. Zum anderen untersuchten wir als eine der ersten Studien die Zusammenhänge zwischen sedentärem Verhalten und Stimmung im Alltag und fanden erste Evidenz für einen reziproken Zusammenhang zwischen beiden Konstrukten sowie, dass Unterbrechungen des sedentären Verhaltens sich positiv auf die Stimmung auswirken können. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Ergebnisse werden im letzten Kapitel dieser Thesis diverse Themen disktutiert, die in weiteren Untersuchungen betrachtet werden könnten. Wir gehen davon aus, dass die gleichzeitige Erfassung und Analyse aller Aspekte des (in)aktivem Verhaltens (d.h. Schlaf, sedentäres Verhalten und körperliche Aktivität) für das Verständnis der Wechselbeziehung und deren gesundheitlichen Auswirkungen immer wichtiger werden. Weiterhin gehen wir davon aus, dass sich die Frage der Kausalität stellen wird, wenn zukünftige Forschungsarbeiten den reziproken Zusammenhang zwischen sedentärem Verhalten und Stimmung bestätigen. Letztlich erwarten wir, dass die psychophysiologische Reaktion des sedentären Verhaltens zunehmend in den Mittelpunkt der Forschung rücken wird.