1. Perioperative Anämietoleranz
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Habler, O., Meier, J., Pape, A., Kertscho, H., and Zwißler, B.
- Abstract
Die zu erwartende Kostensteigerung im Transfusionswesen (steigender Fremdblutbedarf bei gleichzeitig rückläufiger Spendebereitschaft, Behandlungspflicht transfusionsassoziierter Folgeerkrankungen) erhöht den sozioökonomischen Stellenwert der Entwicklung institutionsspezifischer Transfusionsprogramme. Ein wesentlicher Bestandteil hierbei ist – neben einer schonenden Operationstechnik und der konsequenten perioperativen Anwendung fremdblutsparender Maßnahmen – die Ausschöpfung der natürlicherweise vorhandenen „Anämietoleranz“ des menschlichen Organismus (Toleranz größerer Blutverluste durch Verlust von „verdünntem“ Blut, Hinauszögern des Transfusionsbeginns bis nach chirurgischer Blutstillung, Gewinnung von autologem Blut). In der vorliegenden Übersicht werden die Mechanismen, Einflussgrößen und Grenzen dieser natürlichen Anämietoleranz für den Gesamtorganismus und für einzelne Organsysteme zusammengefasst und die sich daraus ergebende Indikation zur Erythrozytentransfusion abgeleitet. Unter kontrollierten Bedingungen (Narkose, strikte Aufrechterhaltung von Normovolämie, komplette Muskelrelaxierung, Hyperoxämie, Hypothermie) werden von kardiopulmonal gesunden Individuen kurzzeitig auch extreme Grade der Verdünnungsanämie [Hämoglobin- (Hb-)Wert <3 g/dl (<1,86 mmol/l)] ohne Transfusion toleriert. In der klinischen Routine bleibt diese Situation – nicht zuletzt in Ermangelung eines adäquaten Monitorings – jedoch auf spezielle Sonderfälle beschränkt (z. B. unerwartete große Blutverluste bei Zeugen Jehovahs, unerwarteter Engpass bei der Bereitstellung von Fremdblut). Die derzeit geltenden Empfehlungen verschiedener Expertenkommissionen decken sich dahingehend, dass perioperativ (1) bis zu einer Hb-Konzentration von 10 g/dl (6,21 mmol/l) auch bei alten Patienten und Patienten mit kardiopulmonalen Begleiterkrankungen eine Transfusion von Erythrozyten in der Regel nicht notwendig ist und (2) eine Transfusion bei jungen, gesunden Patienten ohne kardiopulmonale Vorerkrankungen (einschließlich Schwangeren und Kindern) erst ab einer Hb-Konzentration von <6 g/dl (<3,72 mmol/l) notwendig wird. Auch beatmete Intensivpatienten mit Polytrauma und Sepsis scheinen nicht von einer Transfusion auf Hb-Konzentration >9 g/dl (>5,59 mmol/l) zu profitieren. Bei massiven Blutverlusten und diffuser Blutungsneigung scheint ein Hb von 10 g/dl (6,21 mmol/l) zur Stabilisierung der Blutgerinnung beizutragen.
- Published
- 2006
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