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Bei Beginn der katamnestischen Untersuchungen stand von vornherein fest, das eine eingehende Prufung der Entwicklung von uber 800 Probanden (siehe Tab. 5) mit den zur Verfugung stehenden Mitteln praktisch nicht zu bewaltigen war. Eine oberflachliche Betrachtung von einigen hundert Probanden, z. B mittels eines Fragebogens, wurde aus naheliegenden Grunden abgelehnt. Die Informationen, die auf diese Weise gewonnen werden, sind oft unzuverlassig, betreffen zur Hauptsache Auserlichkeiten und vermitteln einen nur luckenhaften und unzuverlassigen Einblick in die Psychodynamik der Probanden. Es ist weit aufschlusreicher, eine kleinere Anzahl ehemaliger Patienten nochmals zu untersuchen, wobei dann etliche Mittel einer grundlichen Diagnostik zur Anwendung gelangen konnen.

Entwicklung und Reifung sind zentrale Anliegen der Menschenkunde. Kein Wunder deshalb, das sich die Literatur vielfach damit in Epos, Drama und Roman befast (Odyssee, Faust, Don Quijote usf.). Unter den Infantilen verdient Felix Krull von Th. Mann3 eine besondere Beachtung. Es handelt sich, wie Wysling dargelegt hat, um ein Buch der Kindheit des Verfassers, welches bezeichnenderweise mit dem Tode des eigenen Vaters abgeschlossen wird. Felix ist, wie sein Name sagt, ein „Gluckspilz“, der in einer ewigen Unverwustlichkeit marchenhaft dahinlebt. Das Magische wird auf moderne Weise in ein „Grand Hotel“ verlegt, ein Ersatz fur das fruhere Konigsschlos. Es gibt hier fur Felix keinen Verzicht, keine Einengung durch ethische Forderungen, sondern nur eine Begluckung durch sofortige Triebbefriedigung. Felix legt sich auch nirgends fest: Er erkauft die Freiheit zu allen Moglichkeiten mit dem Verzicht auf eine eigene Identitat. Er fast nirgends Wurzeln, er vermag im Sinne der Goetheschen Entelechie nicht zu wachsen und zu werden.

Unverkennbar ist in der heutigen Kinder- und Jugendpsychiatrie die Tendenz, fur die Entwicklungsdiagnostik genauere Merkmale zu bestimmen und zu verwenden als bisher. Dafur sind verschiedene Grunde masgebend. Einmal ist eine gestorte Entwicklung ein zuverlassiger Masstab fur die Schwere, manchmal auch fur die Art der vorliegenden psychischen Storung. Umgekehrt kann sowohl auf korperlichem Gebiet (Franke) als auch auf der psychischen Ebene eine altersentsprechende Entwicklung als ein Merkmal einer ungestorten Gesundheit betrachtet werden.

Bekanntlich bestehen zahlreiche, z. T. komplizierte Wechselwirkungen zwischen der biologischen und der psychischen Entwicklung. Am einfachsten liegen die Verhaltnisse, wenn die Entwicklung von Korper und Psyche harmonisch verlaufen, sei es im ublichen Tempo, im Sinne der statistischen Norm, sei es in Form einer geschlossenen Beschleunigung oder Verzogerung. Doch kommen ebensooft Asynchronien (Stutte) vor, wobei die Entwicklungsgeschwindigkeit von Leib und Seele auseinan derklaffen, etwa indem eine noch kindliche Psyche einen schon reifen Korper bewohnt oder — wenn auch seltener — indem die psychische Ausreifung der korperlichen voraneilt. Trotz dieser moglichen Diskrepanzen erscheint eine zusamenfassende Darstellung unseres gegenwartigen Wissens uber die korperliche Entwicklung und uber deren krankhafte Abweichungen als unerlasliche Voraussetzung fur das Verstandnis und fur die kritische Wurdigung katamnestischer Untersuchungsresultate. Vor allem geht es darum, bei der Beurteilung der Wirkung kausaler Faktoren Auslassungen und Irrtumer zu vermeiden: Insbesondere durfen Entwicklungsstorungen nur dann als konstitutionell betrachtet werden, wenn exogene Ursachen tunlichst ausgeschlosser worden sind. Allerdings sind Extremfalle, bei denen der konstitutionelle Faktor allein ausschlaggebend ist, eine Seltenheit: In der Regel besteht die diagnostische und prognostische Aufgabe vielmehr darin, exogene und endogene Faktoren, die fur die Entwicklung masgeblich sind, in ihren Wechselwirkungen zu erkennen und deren Bedeutung richtig einzuschatzen.