Der Schriftsteller Hirotsu Kazuo (1891-1968) ist in Japan hauptsächlich bekannt als engagierter Kämpfer für Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Matsukawa-Zwischenfall vom 17. August 1949. Dieses Engagement ist als die konsequente Fortführung dessen zu sehen, was in den Jahren der Taishô-Demokratie (1912-1926) zu keimen begann und in den Kriegsjahren ab 1931 zur Vollendung gelangte: Eine Lebenshaltung, die es einem ermöglicht, den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten sachlich und furchtlos ins Auge zu sehen, sich des eigenen Standpunktes zu vergewissern und dann kühl und überlegt nach Maßgabe der als richtig erkannten Werte und Kriterien zu reagieren und nicht nachzugeben, auch wenn man mit seinen Überzeugungen gegen den Strom zu schwimmen gezwungen ist. Typisch für den Autor Hirotsu Kazuo ist die Verquickung von moralischen und ästhetischen Prinzipien, bringt er doch diese Lebenshaltung explizit mit der Gattung der „Prosa“ – japanisch "sanbun" – in Zusammenhang, wobei hier die erzählende Prosa gemeint ist. Hirotsu zufolge ist die Prosa als Kunstgattung am besten geeignet, das reale Leben des Menschen aus unmittelbarer Nähe zu betrachten und kommentierend zu begleiten. Aus dem postulierten Realitätsbezug der Prosa-Kunst folgert Hirotsu weiter, daß der Prosa-Schriftsteller quasi per definitionem Interesse an seinem sozialen und politischen Umfeld haben und folglich bis zu einem gewissen Grad auch engagiert sein müsse. Hirotsu prägt den Begriff vom „Geist der Prosa“ – "sanbun seishin" – und meint damit zweierlei: einerseits den für das Genre „Prosa“ charakteristischen Geist, andererseits eine bestimmte geistige Haltung im realen Leben, die dem der Gattung „Prosa“ attestierten „Geist“ entspricht. Die Konzeption des „Geistes der Prosa“ spielt eine zentrale Rolle in Hirotsus Denken und Handeln ebenso wie in seinem schriftstellerischen Schaffen. Der hohe moralische Anspruch, den Hirotsu an sich als Intellektuellen stellt und den er mit seiner Literatur verfolgt, ermöglichte es ihm, in den Jahren des Krieges bis 1945 nicht „einzuknicken“ und entgegen allen Gleichschaltungsversuchen von Regierungsseite, gegen den „Geist der Zeit“ und gegen die Mehrheit seiner Schriftstellerkollegen und das Drängen einiger von ihnen seine geistige Unabhängigkeit zu wahren und sich nicht für die Ziele einer expansionistischen Außenpolitik und einer repressiven Innenpolitik vereinnahmen zu lassen. Er ließ sich nicht benutzen als Instrument der Regierungspropaganda, ließ sich nicht dazu herab, Gefälligkeitsliteratur zu schreiben, etwa, um die „Moral des Volkes“ zu heben oder Verständnis für die Kriegspolitik zu wecken. Doch Hirotsu blieb in den schwierigen düsteren Jahren der Militärherrschaft nicht nur moralisch integer und geistig distanziert, er hat – auch dies unterscheidet ihn von vielen anderen Autoren, die sich in eine Art innerer Emigration zurückzogen wie zum Beispiel Tanizaki Jun’ichirô – konsequent weitergeschrieben und weiter veröffentlicht, auch wenn die Bedingungen des Publizierens im Lauf der Zeit zunehmend schwieriger wurden und die Zahl der Publikationen zwangsläufig abnahm. So veröffentlichte er im Jahre 1931, dem Jahr des „Mandschurischen Zwischenfalls“, mit dem Japan in einen Krieg mit China hineinschlitterte, der von kritischen Historikern als Beginn des erst mit dem 15. August 1945 endenden „Fünfzehnjährigen Krieges“ gesehen wird, 12 Titel, darunter zwei Bücher, die jeweils mehrere kürzere Beiträge umfassen. 1932 sind es zweiunddreißig Titel, 1933 vierunddreißig. So geht es weiter, bis in die 1940er Jahre hinein. Erst jetzt nimmt die Zahl der Veröffentlichungen nach und nach ab. 1943 sind noch dreizehn Titel verzeichnet, 1944 drei, 1945 kein einziger mehr. In den fünfzehn Jahren des Krieges blieb Hirotsu durchweg ein kritischer und unabhängiger Beobachter der Zeitverhältnisse, die er mal direkt, mal indirekt in seinen Aufsätzen und Erzählungen kommentierte und kritisierte. In der vorliegenden Studie wurden die zentralen Texte (sowohl kritische Aufsätze ("hyôron") als auch Erzählungen ("shôsetsu")) Hirotsus aus der Kriegszeit in ihrer Erstveröffentlichungsversion analysiert, angefangen mit dem in Japan im politischen und im geistesgeschichtlichen Diskurs vielzitierten "Sanbun seishin ni tsuite (kôen memo)" („Über den Geist der Prosa (Vortragsnotizen)“ von Oktober 1936 über die Erzählungen "Chimata no rekishi" („Aus dem Leben einfacher Leute“, Januar 1940) und "Wakaki hi" („Jugendtage“, Juni 1943) bis hin zu dem von der Literaturkritik wie von den Literaturhistorikern hoch gelobten Meisterwerk der Essayistik Tokuda Shûsei ron („Tokuda Shûsei“) vom Juli 1944, dem letzten Titel, den Hirotsu zur Zeit des Krieges veröffentlichte. All diese Texte legen Zeugnis ab von der kritisch-distanzierten Haltung, die Hirotsu in den Kriegsjahren konsequent einnahm, und von einem lebendigen „Geist der Prosa“, der sich in den beiden erzählenden Texten über deren zentrale Figuren (die tatkräftige Frau Onui in dem einen, der eher zurückhaltende, stille Kojima und sein Vater in dem anderen Fall) manifestiert und sogar in Hirotsus Beschreibung des Schriftstellers Tokuda Shûsei (1871-1943) ausmachen läßt. Die Analyse macht deutlich, wie ein einzelner Autor, von einem liberal-demokratischen Standpuntk aus, ohne Zugehörigkeit zu und Rückhalt durch politische Organisationen, zur Zeit des Krieges versuchte, die geistige Autonomie zu wahren und für Menschlichkeit und Individualität einzutreten. Die Texte sind zu verstehen als Dokumente eines im Westen bisher kaum wahrgenommenen, konsequenten geistigen Widerstandes in einem System, das zwar nicht ganz so totalitär und monströs war wie das Dritte Reich unter Adolf Hitler, das aber dennoch innenpolitisch durch massive Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, durch Manipulation der öffentlichen Meinung, Zensur und Einschüchterungsmaßnahmen aller Art gekennzeichnet war und darauf abzielte, alle Ressourcen den außenpolitischen Expansionszielen und dem nationalen Machtstreben unterzuordnen. Diese Texte konnten der Vorzensur wie der Nachzensur entgehen, weil der Autor es vermochte, seine distanzierte Haltung so geschickt in scheinbare Banalitäten und lockeren Humor zu verpacken, daß die Zensurbehörden sich täuschen ließen. So konnte selbst ein eminent und explizit politischer Text wie "Kokumin ni mo iwasete hoshii" („Auch die Meinung der Bürger soll gehört werden“, Oktober 1939) unverändert durch Eingriffe der Obrigkeit veröffentlicht werden. In diesem Aufsatz hantiert Hirotsu geschickt mit eben jenen Begriffen, welche die Obrigkeit auf ihre „Black List“ gesetzt hat: „Liberalismus“ zum Beispiel (japanisch "jiyûshugi") wurde zu einer gefährlichen ideologischen Tendenz erklärt, durch welche das Land Schaden nimmt. Hirotsu schlägt hier scheinbar in die gleiche Kerbe wie seine Regierung, indem er vor dem "Liberalismus der Organe" warnt, nur daß er eben jenen als schädlich deklarierten „Liberalismus“ nicht den Bürgern, sondern den Staatsorganen attestiert und ihnen damit vorwirft, nicht den von der Regierung geforderten Werten und Haltungen zu entsprechen. Bei Hirotsu steht der Begriff „Liberalismus“ für „staatliche Willkür“ gegenüber den Bürgern. Scheinbar – das heißt, der sprachlichen Oberfläche nach – den Behörden nach dem Mund redend, sagt er tatsächlich jedoch das Gegenteil und kritisiert Unterdrückung und Bevormundung. Dies war Hirotsus Strategie. Zugrundegelegt wurden der Analyse nicht die in den „Gesammelten Werken“ ("Hirotsu Kazuo zenshû", Verlag Chûô kôron sha) abgedruckten leicht zugänglichen Textfassungen, sondern die tatsächlichen Erstveröffentlichungsversionen aus den Jahren 1936 bis 1944, die in mühsamer Recherchearbeit in verschiedenen Archiven und Bibliotheken in Japan zusammengesucht, kopiert und abfotografiert wurden. Dies geschah vor dem Hintergrund der Überlegung, daß Texte bei der Aufnahme in eine Werkausgabe in Japan nicht selten verändert werden. Vor allem eventuell kompromittierende Äußerungen aus der Kriegszeit werden gerne entweder umgeschrieben oder ganz herausgestrichen. Durch die Heranziehung der Originalveröffentlichungen aus dem Kriegsjahren konnte die Gefahr einer „Nachbesserung“ auch der geistigen Haltung umgangen werden. Die Studie leistet einen Beitrag zur textbasierten, philologisch untermauerten Widerstandsforschung, und es bleibt zu hoffen, daß sie den Weg aus der Nische der japanologischen Philologie hinaus in den westlichen Historikerdiskurs um Fragen des geistigen Widerstands im Krieg hinein finden und langfristig in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang gestellt werden wird, der neben Japanologie und Geschichtswissenschaft idealerweise auch noch die Philosophie und die Germanistik mit Fragen der Widerstandsliteratur einschließt.