1. Offenlegung versus Geheimhaltung bei Soldaten mit psychischer Erkrankung
- Author
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Holzhausen, Fabian, Rüsch, Nicolas, and von Wietersheim, Jörn
- Subjects
Psychische Störung ,Stigmatisierung ,DDC 150 / Psychology ,Militär ,Military personnel ,Psychology ,Mental disorders ,Social stigma ,Diskriminierung ,Offenlegung ,Stigma ,ddc:150 ,Geheimhaltung ,Social discrimination ,Soldat ,ddc:610 ,Psychisch Kranker ,DDC 610 / Medicine & health - Abstract
Viele Soldaten mit einer psychischen Erkrankung stehen vor der Entscheidung, diese offen zu legen oder geheim zu halten. Die Entscheidung fällt den meisten nicht leicht, da es verschiedene Vorteile und Nachteile abzuwägen gilt. Diese und viele weitere zu beachtende Aspekte im Umgang mit Menschen mit psychischer Erkrankung wurden bereits früher in verschiedenen Forschungsarbeiten untersucht. Soldaten mit psychischer Erkrankung stellen dabei, gemessen an der absoluten Anzahl der Betroffenen, eine kleine Gruppe dar. Dabei gibt es im Vergleich zur zivilen Bevölkerung einige Unterschiede hinsichtlich der strukturellen Rahmenbedingungen. Ob Soldaten mit psychischer Erkrankung offen mit ihrer Erkrankung umgehen oder diese geheim halten und welche Wege es für den Umgang mit der Problematik und Entscheidungsfindung gibt, war bisher noch nicht hinreichend erforscht worden. Aus diesem Grund untersuchte diese Studie in einem qualitativen Ansatz die Ansichten von n=56 Soldaten mit psychischer Erkrankung und von n=16 Bundeswehrangehörigen ohne psychische Erkrankung zu diesem Thema. In sieben Fokusgruppen mit Soldaten mit psychischer Erkrankung und drei Fokusgruppen mit Bundeswehrangehörigen ohne psychische Erkrankung wurde anhand eines Interviewleitfadens nach Erfahrungen und Meinungen zu Stigmatisierung, Diskriminierung und Umgang mit psychischer Erkrankung gefragt. Die Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet, transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse computergestützt ausgewertet. Die Hauptkategorienbildung erfolgte überwiegend deduktiv am Interviewleitfaden, die Subkategorienbildung dagegen induktiv am Material. Die Fokusgruppenteilnehmer berichteten von verschiedenen Vor- und Nachteilen, die die Offenlegung, oder die weitere Geheimhaltung mit sich bringt. Folgende Nachteile haben sich im Rahmen dieser Studie herauskristallisiert. Die meisten Soldaten waren nach der Offenlegung Diskriminierung durch unangemessenes Gerede oder Kommentare ausgesetzt. Dazu kam es häufig zu Bagatellisierung der psychischen Erkrankung. Zudem sahen sich die Soldaten unserer Fokusgruppen mit psychischer Erkrankung nach Offenlegung mit Stereotypen konfrontiert. Auch die Etikettierung von Schwäche spielte bei der Entscheidungsfindung eine Rolle. Stigmatisierung in der Folge der Offenlegung führte häufig zu Selbstetikettierung. Die Sorge vor Stigmatisierung war somit ein häufiger Grund für die Geheimhaltung. Zusätzlich stellte die Angst vor negativen Karrierekonsequenzen einen häufigen Grund gegen eine Offenlegung dar. Langfristig gesehen führte andauernde Geheimhaltung jedoch bei den meisten Teilnehmern der Studie zu sozialer Isolation und Problemen. Die Anbindung an das professionelle Hilfssystem stellte für viele Soldaten mit psychischer Erkrankung in dieser Studie den Hauptgrund da, die Erkrankung offen zu legen. Zumeist wurde eine partielle Offenlegung bevorzugt, um Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Die Gesprächs- und Ansprechpartner befanden sich dabei überwiegend im beruflichen Umfeld. Eine Öffnung gegenüber Zivilisten fiel vielen Soldaten schwer, da Erfahrungen mit Unverständnis und Stigmatisierung häufig waren. Bundeswehrangehörige ohne psychische Erkrankung berichteten ebenso über die Diskriminierung von Soldaten mit psychischer Erkrankung. Strukturelle Stigmatisierung durch geminderte Karriereaussichten wurden bestätigt. Strukturelle und organisatorische Probleme innerhalb der Bundeswehr wurden als Ursache thematisiert. Eine Teilnahme an Gruppenprogrammen war für viele Soldaten mit psychischer Erkrankung eine annehmbare Idee, um ihre Entscheidungsfindung, ob die psychische Erkrankung offengelegt oder geheim gehalten werden soll, zu unterstützen. Außerdem können Aufklärung und mehr Information über psychische Erkrankungen helfen Stigmatisierung zu reduzieren. Hier gibt es noch Nachholbedarf bei der Bundeswehr. Die Literatur bestätigt vorherrschende Stereotypen und Stigmatisierung gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung. Soldaten in Deutschland als eine Randgruppe waren dabei bisher jedoch noch nicht betrachtet worden. Es gibt Gruppenprogramme zur Reduktion von Stigmatisierung als erfolgreiche Interventionsmöglichkeit, die auch in der Bundeswehr einen wertvollen Beitrag zur Unterstützung von Soldaten mit psychischer Erkrankung leisten könnten. Solche Programme sollten durch weitere Studien begleitet werden. Insgesamt besteht weiterhin noch Forschungsbedarf, zum Beispiel im Rahmen von Längsschnittstudien, wie die Entscheidungsfindung zur Offenlegung oder Geheimhaltung weiter unterstützt werden kann, um eine optimale Begleitung und Therapie von Soldaten mit psychischer Erkrankung zu ermöglichen.
- Published
- 2023