"Die Schlüsselunterscheidung zwischen natürlich und künstlich - dies ist der Ausgangspunkt des hier skizzierten Vortrags - unterscheidet nicht nur auf einer kosmologischen Ebene zwischen der Natur als dem, was sich der menschlichen Hervorbringung oder Formbarkeit entzieht, und dem Künstlichen als dem Menschengemachten oder gesellschaftlich Konstruierten. Diese Differenz wird vielmehr auch im Bereich der Gesellschaft selbst angewandt, um dort natürliche Strukturen von ihren künstlichen Repräsentationen zu trennen. Eine wichtige, für die Konstruktion und Aufrechterhaltung dieser Differenz zuständige gesellschaftliche Institution ist seit dem 19. Jahrhundert die amtliche Statistik. Das Beispiel, das im Zentrum dieses Vortrags steht, ist dem Feld der Arbeitslosen- beziehungsweise Erwerbslosenstatistik entnommen: Hier stößt man immer wieder auf das Konzept einer 'normalen' oder eben 'natürlichen' Arbeitslosigkeit, die sich jeglicher menschlicher Intervention, sei es eine technische, politische oder demographische, entzieht. Zum anderen findet man hier zugleich aber auch den Gegenbegriff der 'künstlichen' Arbeitslosenzahl, die nicht einer 'natürlichen' gesellschaftlichen Realität entspricht, sondern sich auf wahlkampftaktische Kalküle, die Eigenart des Verwaltungshandelns oder gar die Hinterlist der beobachteten Subjekte ('Florida Rolf') zurückführen lässt. Der hier skizzierte Vortrag nähert sich diesem Zusammenhang in vier Schritten: 1. Zunächst richtet sich der Blick auf die kontingente und historisch variable Verknüpfung zwischen dem wahrscheinlichkeitstheoretischen Begriff des Normalen mit dem lebensweltlichen und zum Teil sogar ontologischen Konzept des Natürlichen. Diese Kopplung geht auf die Anfänge der quantitativen Statistik (Süßmilch, Halley) zurück, spielt jedoch auch im modernen Diskurs der Arbeitslosen- und Arbeitsmarktstatistik eine Schlüsselrolle. Hier zeigt sich, wie statistische Regelmäßigkeiten in gesellschaftliche Strukturen umgewandelt werden, die als natürlich erscheinen - eine Transformation, an der im Übrigen die Soziologie maßgeblich beteiligt ist. 2. Sehr schnell zeigt sich jedoch, dass diese Differenz zwischen natürlich und künstlich keineswegs so einheitlich ist, wie es zunächst scheint, sondern in verschiedenen Diskursen zugleich beheimatet ist. Die Unterscheidung kann folglich je nach Kontext als politische Instrumentalisierung, (sozial)wissenschaftliches Adäquationsproblem oder als statistisch-administrative Qualitätsfrage erscheinen. 3. An diese beiden Beobachtungen schließt sich nun die Frage nach der Funktion dieser Verbindung an, die jeweils im Blick auf die einzelnen Diskurse, ihre Akteure und Bedeutungsstrukturen untersucht werden muss. So kann zum Beispiel die Übersetzung des statistischen Begriffs 'normal' in die eher lebensweltliche Differenz von natürlich und künstlich als politische Handlungsentlastung wirken, da eine Einwirkung auf das Natürliche nicht möglich und auf das Künstliche nicht nötig ist. 4. Dies lässt sich jedoch nicht allein auf der Ebene der Diskurse analysieren, sondern muss auch in den Rückwirkungen auf die Subjekte näher betrachtet werden. Damit lassen sich abschließend Anschlüsse zur den mittlerweile umfangreichen Forschungsliteraturen zu Subjektivierung (Foucault), Normalismus (Link) und der 'Erfindung von Personen' (Hacking) herstellen, wobei hier nicht der Aspekt der statistischen Subjektivierung als solche im Mittelpunkt steht, sondern die Rolle, die Labels wie 'natürlich' und 'künstlich' in diesem Zusammenhang spielen." (Autorenreferat)